Tremonia Noctu

"Wir sollten unsere Kräfte sparen", sagt Mara und beginnt wieder, mit ihrer Tasche auf dem Rücken loszuschreiten. Eine Tasche die, wohlgemerkt, eine Basisausstattung für Kainskinder bietet. Praktische Kleidung, Messer, eine Karte von Dortmund, Schreibmaterial und wasserfeste Behälter, Kabelbinder, eine Reihe Werkzeug, eine Rolle Geldscheine und ein Billighandy, das offenbar noch nicht aktiviert ist und für Notfälle dienen könnte. Du gehst davon aus, dass Mara Biedermanns Nummer kennt. Du kennst sie nicht.

Deine Erzeugerin ist unter einer Straßenlaterne stehengeblieben und studiert die Karte. "Da vorne ist eine U-Bahn-Station. Grotenbachstraße. Wir müssen nur..." Sie schaut sich um. "...der Straße dort folgen. Dann sollten wir in einer bis zwei Stunden in der Innenstadt sein. Dort müssen wir einen Unterschlupf finden, wobei ich vermute, dass sich in den U-Bahn-Schächten etwas ergeben wird. Vielleicht finden wir ja sogar direkt diesen Schutzraum."

Immerhin nützliche Sachen in den Taschen. Ich nehme mir das Messer und hefte es an meinen Gürtel. “Ja, diese alten Tunnel und Schächte haben oft ungenutzte Räume. Irgendwann mal vor 60 Jahren für irgendwas gebaut.” Ist schon eine Ewigkeit her, dass ich sowas gelernt habe. Puh, ein anderes Leben damals, aber ein paar Lektionen haben sich eingeprägt.

“Ich denke sobald wir in den Tunneln sind, kann ich diesen Sicherheitsraum finden.” Mein Blick folgt der Straße zur U-Bahnstation und ich trete aus dem Licht der Straßenlaterne. “Wir sollten los, ich fühl mich ganz nackt hier auf offener Straße.”

Ihr kommt an die U-Bahn-Station - aber es ist keine unterirdische Station. Es ist eine Straßenbahn-Endhaltestelle, an der noch einige letzte Nachtschwärmer warten. Mara verzieht das Gesicht und winkt dir dann, ihr zu folgen. Sie duckt sich hinter einigen Hecken, dann seid ihr jenseits der Station auf den Gleisen. Dummerweise führen diese nach einigen Metern direkt auf eine große Straße. Mara wählt die Route über einen Skaterpark und an einem großen Gebäude entlang, dessen Bemalung auf ein Schwimmbad hinweist.

Die Schienen laufen mitten auf eine Art Einkaufsstraße zu. Zwar ist der Vorort um diese Zeit recht menschenleer, aber ihr benötigt dennoch eine Weile, bis ihr nach dem Schleichen durch Hinterhöfe wieder auf den Schienen landet und den Vorort hinter euch lasst. Ab da wird es einfacher - abgesehen von den Momenten, wo ihr euch wegduckt, weil die Stadtbahn an euch vorbeifährt (und die Taktung ist leider recht hoch). Schließlich, nachdem sie eine Weile durch die Wildnis hinter den Häusern geführt haben, münden die Schienen auf eine weitere große Straße, die geradewegs auf die Skyline von Dortmund zuläuft.

"Es hilft nichts", sagt Mara mit einem Blick auf den Halbmond, der bereits hoch am Himmel steht. "Wir müssen uns entscheiden. Unten durch die Wildnis oder oben lang und gegebenfalls rasch in Deckung gehen wenn jemand kommt. Hauptsache, wir bleiben an den Schienen dran." Sie sieht dich an. "Was denkst du, Kind?"

Das Netz der Stadt hatte ich mir etwas anders vorgestellt. Ich hatte die Hoffnung, dass die Tunnel weiter an den Rand der Stadt führten. Vielleicht tun sie das ja auch, wir haben nur keinen Zugang. Ich mache mir eine mentale Notiz, ausführliche Karten für den Stadtkern und die Randgebiete zu organisieren.

Mara gibt den Ton an und ich folge. Sie weiß, was sie tut - hoffe ich. Zwar bin ich weniger geübt als sie, aber mich mitten in der Nacht hin und wieder zu ducken, das schaffe ich noch. Der Weg ist länger als mir lieb ist und mir kommt die Zeit verschwendet vor.

Mein Blick folgt dem ihren zum Mond. Uns geht die Zeit langsam aus. “Ich glaube, wir sollten den schnellsten Weg wählen." Für einen Moment erinnere ich mich an die Gerüchte über sabbernde und blutrünstige Werwölfe. “Wer weiß was in den Büschen so alles lauert.”

"Vermutlich nur alte Bierdosen", sagt Mara, aber sie scheint nicht völlig unglücklich über deine Wahl. Ihr geht also langsam am Rand der Straße entlang. Nachdem das dritte Auto abgebremst hat, als es euch passiert, schüttelt deine Erzeugerin den Kopf. "Wir sollten unsere Blutskräfte anwenden", meint sie leise. "Nicht dass noch jemand die Polizei ruft." Du siehst dich um, ob schon Blaulicht zu sehen ist und als du wieder nach vorne schaust, ist Mara verschwunden.

“Ja, wahrscheinlich das Beste. Wollen ja nicht, dass jemand deine ranzige - “ Doch sie ist schon weg, bevor sie meinen Killer Witz hören kann. Naja, kann sie sich ja denken. Aber recht hat sie trotzdem. Ich warte einen Moment und trete in den Schatten. Das Blut weiß was zu tun ist, besser als ich es je formulieren könnte.

Als ich mich wieder in Bewegung setzte, fühle ich mich freier, sicherer. Vor den Augen der Welt versteckt, eigentlich nicht so wirklich mein Ding aber das ist Dortmund auch nicht. Heißt erstmal Scheiße fressen und back to the basics. Jetzt kann ich auch einen Zahn zulegen, immerhin sitzt uns die Zeit im Nacken. Es gilt den Schienen zu folgen und den Eingang in die Tunnel zu finden.

Weitere Fahrzeuge passieren dich, aber niemand bremst mehr. Einmal kommt dir ein Fußgänger entgegen und weicht instinktiv aus, ohne von seinem Smartphone aufzusehen. Die Straße verläuft angenehm gerade, die Schienen in der Mitte, rechts von euch der Hang, der hinabführt. Und dann siehst du es: Einen monströsen Bau, von dem sich seltsame, angezogene Spinnenbeine in die Nacht zu strecken scheinen. Ort des Triumphes und der Niederlagen. Das Westfalenstadion, rechterhand vor euch. Auf der anderen Straßenseite ein Autohändler, ein Steakhaus. Fußball, Autos, Fleisch - Dortmund ist eine deutsche Stadt.

Mara dagegen siehst du nicht.

Nun läufst du auf eine Unterführung zu - offenbar überquert hier die Autobahn die Stadtstraße - und hast die Haltestelle nahe des Stadions gerade hinter dir gelassen, da fällt dir etwas auf: Die Schienen laufen nun in den Untergrund. Die Straßenbahn wird zur Ubahn. Der Tunnel ist stockfinster, ein gähnendes Loch, das in die Eingeweide Dortmunds führt.

Ich nehme mir die 30 Sekunden und bleibe stehen, um mir das Stadion anzusehen. Ein monströser Bau, und hässlich noch dazu. Was ich dafür Gelder hätte verschwinden lassen können. Welche Möglichkeiten sich bei einem solchen Projekt aufmachen - endlos. Mir bleibt keine Zeit meiner Fantasie nachzugehen, aber ich komme auf jeden Fall zurück.

Es ist nicht mehr weit, bevor ich endlich den Eingang erreiche. Wurde ja auch Zeit. Über Schienen und Schotter laufen ist nicht besonders schnell und wenn ich nicht unsichtbar wäre, würde ich sicherlich reichlich dumm aussehen. Bevor das letzte Licht völlig im Dunkel des Tunnels verschwindet, bleibe ich stehen.

“Mara?” Oh Gott, hoffentlich ist sie nicht schon vorgenannt.

Keine Antwort. Vielleicht waren die 30 Sekunden doch zu viel Zeit... Oder sie beobachtet dich. Beobachtet sie dich? Würde sie das tun? Die grauen Wände schweigen. Schwarze Kabel ziehen sich wie Schlangen daran entlang, verschmelzen weiter vorne mit der Finsternis. Die Schienen sind verdammt eng an den Wänden. Was, wenn jetzt eine Bahn kommt? Du musst dich entscheiden. Nimmst du den rechten Tunnel oder den linken?

Ich warte auf eine Antwort, doch es kommt keine. War ja klar. Nagut, dann eben ohne Mara. Ich vertraue auf meine Erzeugerin, sie wird mich finden. Also, falls sie das will. Vielleicht hat sie mich hier auch ausgesetzt, wie einen Welpen kurz nach Weihnachten? Wäre jetzt ein guter Zeitpunkt.

Der Gedanke gefällt mir gar nicht, also verbanne ich ihn. Vorwärts. An den Wänden lang, bleib mit dem Rücken zur Wand. Wenn die Bahn mich erwischt, bin ich nur eine Fliege an der Windschutzscheibe. Rechts oder Links? Im Zweifel immer links rum.