Tremonia Noctu

Es ist Nacht, wie immer und wie es für immer sein wird für dich.
Diese Nacht ist klar, du könntest die Sterne am Himmel sehen, wenn nicht die Laternen ihnen mit ihrem künstlichen Licht Konkurrenz machen würden.
Draußen ist es immer noch etwas kühl, obwohl bereits Mai ist. Nicht, dass dir das was ausmachen würde, aber je nachdem richtet sich ja doch die Gaderobe, wenn man sich unter die Lebenden mischen will.

Aktuell befindest du dich zwar noch in deiner Zuflucht, aber die Nacht ist ja noch jung und wer weiss wohin sie dich einladen wird ihr zu folgen.
Eine Liebe oder zwei, was solls...als könntest, als würdest du Nein sagen...

So musst du gar nicht lange warten bis sie an deine Tür klopft.

Leider in Form von Vukho, deinem nicht so sehr geschätzten Mitarbeiter, der auch nicht so guckt, als wäre er gern da. Immerhin kommt er ja mal von sich aus auf dich zu, also muss es dafür einen Grund geben. Nur konnte dieser gut oder schlecht sein.

"Oi. Ich hab da was für dich, dass dich interessieren sollte." Beginnt er direkt beim Eintreten auf russisch zu sprechen und lässt sich einfach ungebeten auf dein Sofa fallen, als wäre er hier zuhause, was er vermutlich auch bisher mehr war, als du.

Ich frage mich einmal mehr wie ein Mann wie er an einen ukrainischen Spitznamen gekommen ist. Vielleicht hat es nicht mit seinem Ohr zu tun, des fehlt, sondern mit den Ohren der anderen. Ich werde mir die Geschichte irgendwann einmal erzählen lassen.
Der Hund hat sich verzogen. Ich kann ihre Anwesenheit beinahe spüren, irgendwo hinter dem Sofa unter dem Beistelltisch. Sie traut Menschen nicht. Sie weiß, dass die Dinge zwischen Vukho und mir noch lange nicht ausgefochten sind.

Vukho mag nicht mein liebster Mitarbeiter sein, doch er ist mein bester - und daran hatte und habe ich nichts zu entscheiden. Vor allem aber ist er ein Bruder und ein Gast in meinem Haus, also stelle ich ihm eine Dose von den Eisteegesöff hin, dass er trinkt wenn er sich nicht gerade besäuft. Für mehr hat er wohl keine Zeit, so wie er mit der Tür ins Haus fällt. Ich hätte sogar noch Kuchen von der alten Frau Finke aus der Frontwohnung im Erdgeschoss.

Ich setze mich in den abgewetzten, ausgeleierten Kunstledersessel schräg ihm gegenüber. “Dann erzähl”, sage ich ihm. Russisch, denn so hat er angefangen.

Vukho nimmt den Eistee, den sicher auch irgendein Deutsch-Rap-Gangster vermarktet hat. Gangster und Eistee...was ist nur los mit denen?

"Спасибо." Höflich konnte er schon sein, auch wenn man sich nicht grün war.
"Gibt n Lagerhaus für so Zeug, das wir verticken. Und da schleicht eine rum. Eine von euch."

"Ich sehe es mir an", sage ich ihm. "Erzähl mir alles, was euch aufgefallen ist. Was sie gemacht hat, wie sie aussieht, woran ihr sie erkannt habt, solche Sachen."

Es ist meine Arbeit, darum mache ich sie. Und da ist noch etwas anderes, bemerke ich. Ich will sehen, wer da herumschnüffelt. Ich will nicht, dass andere an meinen Angelegenheiten herumschnüffeln. Dabei ist nicht wichtig, dass es auch Vukhos und Lebedevs Angelegenheiten sind. Das Lagerhaus ist in meinen Listen, in meinen Geschäften, gehört zu meinen Leuten. Meinen.

Also lehne ich mich etwas vor und höre Vukho sehr genau zu.

"Ich kenn die. Also naja, hab sie schon paar mal gesehen, mit anderen. Ihr nennt die анархи, Да?
Meine Jungs hatten was bemerkt, dann bin ich gucken gegangen und ja, denke dass is dieselbe. Vielleicht aber auch nicht. War schließlich dunkel, aber die kennt den Ort, also möglich. Hat blaue Haare, is klein...ne Frau halt." Er zuckt mit den Schultern. "Deutsch, denk ich.
Falls sie mich bemerkt hat, denke schon, dann hat sie zumindest nichts gemacht. Is abgehauen. Dachte aber, wäre nicht klug selbst sie anzusprechen. Weiss ja nicht was hier abgeht unter euch."

“Mh”, mache ich und lehne mich wieder zurück. “Eine von denen, mit denen Hammerkopf Abmachungen hatte.” Ich reime mir das aus dem zusammen, was Maslanovic gesagt hat und was Vukho jetzt sagt und schaue, ob er dazu noch etwas zu sagen hat.

“Ich sehe mich da mal um. Wenn das nichts bringt, dann lass die Jungs ihr beim nächsten Mal eine Nachricht geben. Eine Zeit nachts und einen Ort zum Treffen, halbwegs neutral, wo keine Bullen weit und breit sind.”
Er wird ein paar Orte dafür kennen, denke ich. Er kennt sich hier noch viel besser aus als ich.
“Stell dann ein’ oder zwei von den Leuten in der Nähe ab, falls doch Bullen oder sonst irgendwer kommt. Bei so einem Treffen kann keiner eine Störung gebrauchen.”

“Wie hat Hammerkopf solche Treffen gemacht?” Ich will so gut es geht bei alten Mustern bleiben. Falls diese Frau überlebt hat, was anscheinend so viele andere gerissen hat, ist sie entweder mit dem Feind unter einer Decke oder verdammt vorsichtig geworden. “Die andern müssen nicht wissen, was mit ihm passiert ist”, erkläre ich Vukho also.

"Всё я́сно." erwidert Vukho nur kurz, während er von seinem Gesöff trinkt.

"War immer jemand von uns dabei, sind aber eh immer paar dort. Keine Gefahr wirklich. Die haben ihm vertraut. госпожа синий волосы, war aber nicht so oft da, wie andere. Im letzten Jahr immer weniger." Er zuckt mit den Schultern. Und jetzt ist keiner mehr wirklich da, sollte das wohl heißen.

“Ну тогда.” Viel mehr gibt es nicht zu sagen. Während er sein Zeug austrinkt, mache ich mich fertig. Ein kurzer Blick in den Spiegel, einmal den Kamm durch die Haare. Ich mache schon was her. Der Anzug, der Mantel, die Schuhe. Das alles ist weit entfernt davon, wie ich angefangen habe. Ich lasse mir von Vukho die Adresse geben und überschlage im Kopf, wieviel Geld zur Zeit da dran hängt.

Einen Augenblick lang konzentriere ich mich, um mich an das Leben zu erinnern. Nicht das von damals - das kann verrotten. Nein, ich erinnere meinen Körper an das Leben, an Herzschlag, an Puls, an Wärme.*

Danach gehe ich zu den Verschlägen. Es stinkt, weil sie noch frisch sind. Sie haben noch nicht verstanden, was mit ihnen passiert ist. Ich mag diesen Gestank. Er mischt sich mit wilder Hoffnung, Ahnungslosigkeit, jäher Angst, Panik. Und dann, wenn ich zugreife, mit Lust, mit Ergebenheit.
Bald werden sie so weit sein, dass sie nicht mehr gehen können, weil sie es nicht mehr wollen. Dann sind sie nur noch Fleisch, nur noch Blut, nur noch Opfer. Doch bis dahin genieße ich den Gestank, die Mischung aus allem, was sie einst waren und nie wieder sein werden.**


Später in der Nacht mache ich mich auf zu dem Lagerhaus. Der Hund sitzt auf dem Beifahrersitz und starrt in die Nacht als wisse sie, was dort draußen geschieht. Vielleicht weiß sie es sogar.
“Wir gehen suchen”, sage ich ihr. “Fährten finden.”

—
*Blush of Life, Hunger unchanged 2
**Trinken (Herde), Hunger 1
Jagdwurf 7 Erfolge (R melancholy)

Vukho hatte dir die Adresse gegeben und es stellt sich nun als ein größeres Industriegebiet zwischen Eving und Scharnhorst heraus. Also nicht soweit entfernt. Zu welchem Stadtgebiet es nun genau gehört, weisst du nicht.

Dort ist immer noch ein Teil Bauland, ein anderer ist von einem großen Rewe Logistics Komplex in Beschlag genommen worden, ein anderer von Kaufland und der Ort wo euer Lagerhaus steht, ist nördlich davon angesiedelt, an einer Straße, aber abgelegener von den anderen. Bäume umringen den Platz und schirmen ihn so auch gut vor ungebetenem Besuch ab.

Es leuchten nur die Straßenlaternen auf dem Weg dorthin, abseits der Straße auf dem weitreichenden Gelände ist es stockdunkel.

Vukho hat dir gesagt welche Halle es ist und nach ein wenig suchen und abzählen der Gebäude würdest du diese auch finden. Es steht ein älterer 3er BMW an der kurzen Seite der Halle, nicht direkt vor einem der zwei Rolltore. Neben diesen Toren gibt es auch eine einzelne kleine normale Tür.

Ich fahre einmal um den Block so wie die Straßen es hergeben. Es hilft, ein Gefühl für die Gegend zu bekommen. Mit Menschenaugen betrachtet sieht es nach dem Rand aus. Hier ist alles, was mittendrin keinen Platz findet, aber noch notwendig genug ist, es an den Rand der Stadt zu schaffen.
Es ist ihr Kleidsaum, ein wenig schmutzig vom Straßenstaub und einer chronischen Gleichgültigkeit.

Es gibt jedoch mehr hier, zwischen den Blöcken der Funktionsbauten. Das Dazwischen ist interessant. Das Land beginnt, sich hier zu zeigen. Es starrt mich aus der Dunkelheit heraus an. Ich grüße es zurück, als ich schließlich den Wagen parke. Der Hund springt heraus kaum dass ich ihr die Tür öffne. Ich habe die Leine in der Hand, weil das so erwartet wird. Ich nehme auch die Taschenlampe aus dem Auto mit und dann geht es los.

Erst einmal will ich mir das Lagerhaus anschauen. Es schadet nicht, wenn ich es kennen lerne und weiß, wie hier die Dinge stehen. Früher oder später muss ich alles kennen lernen, alles ablaufen, mehr als einmal. Ich kann genauso gut hier und jetzt damit anfangen.
Mein Plan ist, dann später von hier aus ein paar weitere Kreise zu ziehen und noch etwas weiter Ausschau zu halten. Ich rechne mir ehrlich gesagt nicht eben große Chancen aus, dass ich die Frau aufspüre, die Vukho beschrieben hat. Insgeheim denke ich mir, dass es wahrscheinlicher ist, dass die Frau irgendwann wieder auffällt und dann kriegt sie meine Nachricht.

Aber ich mache das hier eben, weil Vukho und die Jungs es erwarten. Es ist ein Teil meiner Arbeit. Und ich lerne sie kennen, meine Stadt.