Seit ich in der Stadt ankam, habe ich nichts getan als zu überleben. Es ist nicht das erste Mal, dass ich in diesen merkwürdigen Zustand verfalle. Jedes Selbstbild, das man aufbaut, wird abgeschliffen und unwichtig. Man hält sich für klug? Mächtig? Stark? Gut, böse, einen Freund, einen Vater, einen Kameraden, reich, arm, verlogen, wahrhaftig, egal.
All das wird einfach weggewischt und man funktioniert. Das ist, was mit einem passiert, wenn Soldaten einmarschieren oder Raketen einschlagen oder man im gefliesten Folterkeller der Bratva festgeschnallt ist.
Es braucht eine Weile, um wieder von da weg zu kommen. Ein Teil kommt nie wieder zurück. Das sind die Narben, die bleiben. Es ist nicht mein erstes Mal und nicht meine erste Narbe.
Ich habe aber beschlossen, dass ich dieses Mal etwas anders mache. Und zwar genau jetzt, in diesen Nächten nachdem ich überlebt habe und der Verstand beginnt, zu begreifen, was passiert ist. Der wahre Horror beginnt hier, wenn man die Scherben des alten Selbstbildes aufsammelt und sich beinahe daran schneidet.
Früher, bei den ersten Malen, habe ich einfach aufgesammelt und bin irgendwie, mehr schlecht als recht, wieder zurückgefallen in die alten Muster. Ich bin einer, der Leute anführt. Der Sachen versteht, für die andere nicht den klaren Blick und nicht den Biss haben. Ich bin einer, der sich die Hände schmutzig machen kann und nicht mit der Wimper zuckt. Ich habe Durchblick wo andere nicht einmal hinsehen wollen.
Und damit kommen dann die ganzen anderen Illusionen: Ich bin reich. Ich befehle. Ich habe so viele Frauen wie ich will. Kaviar und Vodka, goldene Rolex und fetter Mercedes, Lederschuhe und Maßanzug, Gehstock und Montblanc.
Von da aus ist es dann nicht weit bis zur Überheblichkeit, die mir beim letzten Mal das Genick gebrochen hat. Lebedev hat mich zerschlagen wie eine Porzellanballerina. Und ich bin noch in diesen kostbaren, ersten Nächten, in denen mich die Illusionen noch nicht wieder eingeholt haben. Sie werden wiederkommen, wenn ich nichts dagegen tue. Und ich muss zumindest die Fassaden aufrechterhalten, sonst bin ich tot. Aber ich kann all die zerschlagenen Scherben nehmen und sie so zusammen setzen wie es mir gefällt. Das ist eine geheime Freiheit, vielleicht darum die größte, die man jemals haben kann.
Self-Image [Fluff, Feodor]
- Feodor Mykyta Petrov
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- Feodor Mykyta Petrov
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Re: Self-Image [Fluff, Feodor]
Feodor Mykyta Petrov ist kein echter Name. Es ist der Name, der auf einem alten, vergilbten Ausweis steht, der noch die Stempel und Zeichen der Sowjetunion trägt. Der Ausweis liegt in einer Schublade in einem alten Haus in Novohryhorivka, das immer zu klein und unwichtig war um wirklich zerstört zu werden. Der Ausweis wurde dort vergessen, ebenso wie man sich dort an seinen Besitzer wohl nicht mehr erinnert.
Der Mann, der diesen Namen auf dem Ausweis trotzdem trägt, ist ebenfalls nicht echt. Wenn er überhaupt Ausweise hat, dann nicht mit diesem Namen. Sein Aussehen ist sorgfältig zusammen gestellt, über Jahrzehnte eingewöhnt, einstudiert, beinahe wie echt. Er ist nicht einmal ein Mann. Er ist nicht einmal ein Mensch. Alles davon ist sehr passend.
Doch Feodor hat die Kunst gemeistert, trotz allem jemand zu sein. Er hatte nun ein paar Nächte Zeit, die Blutflecken vom Körper zu waschen, die Stadt kennen zu lernen, die eigenen Werkzeuge und Waffen wieder zu finden, das Kostüm anzulegen, sich an das grauenhafte Lächeln zu erinnern und trotzdem nicht aus Dortmund zu fliehen. Vielleicht würde er eher sterben als zu fliehen. Er hat einen Pakt mit der Stadt gemacht.
Nun sitzt er in einem kleinen Restaurant ungefähr nördlich der Innenstadt und starrt auf das kitschige Aquarium, das darin neonbeleuchtet wird. Die Luft ist schwer vom Rauch von Zigarren, Zigaretten und dem Dampf von Vapern. Männer am Nebentisch spielen Karten. Eine kräftige, überschminkte, vor zehn oder zwanzig Jahren einmal hübsche Frau räumt die Tische ab. Man spricht russisch hier, man isst russisch, trinkt russisch. Das Sirren einer Tättowiernadel aus dem Nebenzimmer mischt sich mit einer Moskauer Playlist aus der alten Anlage.
Jemand macht einen Kommentar zum Kartenspiel, Gelächter, Feodor grunzt eine Art Zustimmung mit halb hoch gezogenem Mundwinkel. Er sitzt allein, weil ihm nicht zu trauen ist. Verräter. Er sitzt trotzdem hier, weil ihm nicht zu trauen ist, wenn er einfach anderswo ist. Verräter.
Es gab ein paar Vorstöße gegen ihn. Die Blicke, die Kommentare. Das hat aufgehört nach den ersten Nächten, seitdem einer der Männer die Seiten gewechselt hat. Vielleicht hat er seine Chance mit Feodor erkannt. Er hat darum die Führung eines der Läden behalten. Und ein wenig mehr. Die Veränderung ist spürbar und das treibt Risse in die Einigkeit der Bratva.
Verräter.
Bislang ist niemand Feodor direkt angegangen. Kein Messer über der Kehle, kein Sack über dem Kopf, keine Kugel in den Rücken. Und mit jeder Nacht wird es ein wenig schwieriger, weil die Gewohnheit einsetzt. Er macht die Arbeit. Die Geschäfte laufen. Was liegengeblieben ist, hat er aufgehoben.
Trotzdem, es ist ein unsicherer Waffenfrieden in diesem Restaurant. Hin und wieder geht ein Blick in Feodors Richtung, der diese Blicke übergeht. Er hält sie aus, weil er es muss. Feodor ist nicht wie sein Vorgänger, der Hammerkopf. Dem hätte man keine Blicke zugeworfen. Vor dem hätte man die Blicke gesenkt.
Wer die Blicke nicht übergeht, ist der Hund. Der Hund, der unter Feodors Stuhl liegt und an einem Knochen kaut. Einem echten Knochen, mit echtem Knochenmark und echten Resten von blutigem Fleisch daran. Das Tier hat glänzendes schwarzes und braunes Fell, viel zu wache Augen, viel zu scharfe Zähne. Vielleicht hilft auch das, den Waffenfrieden zu wahren.
Wer auch immer herübersieht, zu dem starrt der Hund zurück. Er unterbricht das Schaben und Kauen an dem Knochen. Vielleicht hängt ein dünner, blutiger Speichelfaden aus seinem Mundwinkel herunter. Vielleicht sprechen die Bissspuren im Knochen eine eigene Sprache.
Es ist ein hässliches, in der Schwebe hängendes, rauchgeschwängertes Patt, in dem alles festhängt.
Der Mann, der diesen Namen auf dem Ausweis trotzdem trägt, ist ebenfalls nicht echt. Wenn er überhaupt Ausweise hat, dann nicht mit diesem Namen. Sein Aussehen ist sorgfältig zusammen gestellt, über Jahrzehnte eingewöhnt, einstudiert, beinahe wie echt. Er ist nicht einmal ein Mann. Er ist nicht einmal ein Mensch. Alles davon ist sehr passend.
Doch Feodor hat die Kunst gemeistert, trotz allem jemand zu sein. Er hatte nun ein paar Nächte Zeit, die Blutflecken vom Körper zu waschen, die Stadt kennen zu lernen, die eigenen Werkzeuge und Waffen wieder zu finden, das Kostüm anzulegen, sich an das grauenhafte Lächeln zu erinnern und trotzdem nicht aus Dortmund zu fliehen. Vielleicht würde er eher sterben als zu fliehen. Er hat einen Pakt mit der Stadt gemacht.
Nun sitzt er in einem kleinen Restaurant ungefähr nördlich der Innenstadt und starrt auf das kitschige Aquarium, das darin neonbeleuchtet wird. Die Luft ist schwer vom Rauch von Zigarren, Zigaretten und dem Dampf von Vapern. Männer am Nebentisch spielen Karten. Eine kräftige, überschminkte, vor zehn oder zwanzig Jahren einmal hübsche Frau räumt die Tische ab. Man spricht russisch hier, man isst russisch, trinkt russisch. Das Sirren einer Tättowiernadel aus dem Nebenzimmer mischt sich mit einer Moskauer Playlist aus der alten Anlage.
Jemand macht einen Kommentar zum Kartenspiel, Gelächter, Feodor grunzt eine Art Zustimmung mit halb hoch gezogenem Mundwinkel. Er sitzt allein, weil ihm nicht zu trauen ist. Verräter. Er sitzt trotzdem hier, weil ihm nicht zu trauen ist, wenn er einfach anderswo ist. Verräter.
Es gab ein paar Vorstöße gegen ihn. Die Blicke, die Kommentare. Das hat aufgehört nach den ersten Nächten, seitdem einer der Männer die Seiten gewechselt hat. Vielleicht hat er seine Chance mit Feodor erkannt. Er hat darum die Führung eines der Läden behalten. Und ein wenig mehr. Die Veränderung ist spürbar und das treibt Risse in die Einigkeit der Bratva.
Verräter.
Bislang ist niemand Feodor direkt angegangen. Kein Messer über der Kehle, kein Sack über dem Kopf, keine Kugel in den Rücken. Und mit jeder Nacht wird es ein wenig schwieriger, weil die Gewohnheit einsetzt. Er macht die Arbeit. Die Geschäfte laufen. Was liegengeblieben ist, hat er aufgehoben.
Trotzdem, es ist ein unsicherer Waffenfrieden in diesem Restaurant. Hin und wieder geht ein Blick in Feodors Richtung, der diese Blicke übergeht. Er hält sie aus, weil er es muss. Feodor ist nicht wie sein Vorgänger, der Hammerkopf. Dem hätte man keine Blicke zugeworfen. Vor dem hätte man die Blicke gesenkt.
Wer die Blicke nicht übergeht, ist der Hund. Der Hund, der unter Feodors Stuhl liegt und an einem Knochen kaut. Einem echten Knochen, mit echtem Knochenmark und echten Resten von blutigem Fleisch daran. Das Tier hat glänzendes schwarzes und braunes Fell, viel zu wache Augen, viel zu scharfe Zähne. Vielleicht hilft auch das, den Waffenfrieden zu wahren.
Wer auch immer herübersieht, zu dem starrt der Hund zurück. Er unterbricht das Schaben und Kauen an dem Knochen. Vielleicht hängt ein dünner, blutiger Speichelfaden aus seinem Mundwinkel herunter. Vielleicht sprechen die Bissspuren im Knochen eine eigene Sprache.
Es ist ein hässliches, in der Schwebe hängendes, rauchgeschwängertes Patt, in dem alles festhängt.