[April 23] First Date (Feodor / SL / offen)

[Feodor Mykyta Petrov]

“Oi, wo ist er hin?”, frage ich mit dem breitesten ukrainischen Akzent, den ich draufhabe. Ich muss mich nicht verstellen, um überrascht zu klingen. Ich ziehe meine Packung Zigaretten aus der Tasche und überspiele meine Unsicherheit damit, dass ich eine herausfische. Kein Feuerzeug. Ich zucke mit den Schultern, so dass die Jugendlichen es auch sehen können.
“Hat einer Feuer?”

Ich sehe sie der Reihe nach an. Keiner sieht aus wie der eine, der verschwunden ist.

Was sollte das sein? Einer, der sein Revier markieren will? Einer, der wie ich auf einem nächtlichen Streifzug ist? Ein anderer Geliebter der Stadt vielleicht? Noch sind wir nicht so weit, dass ich eifersüchtig werden könnte. Ohnehin keine kluge Sache, wahrscheinlich hat sie hunderte Geliebte unter ihren hunderttausenden Bewohnern. Und das zählt nur uns Menschen.

[Der Steiger]

Die Gruppe schaut sich an, einer nickt und zieht ein feines Zippo-Feuerzeug aus der Tasche. Muss eine Menge Taschengeld gekostet haben. Er hält es hoch, auf Gesichtshöhe, bereit die Droge deiner Wahl zu entzünden.

Du fühlst dich weiterhin beobachtet. Unsichtbare Augen, deren Blick sich in deinen Rücken zu bohren scheint.

[Feodor Mykyta Petrov]

“Danke”, nuschele ich wegen der Zigarette in meinem Mund und beuge mich etwas vor. Das ist ein Nervenkitzel, den ich hasse und liebe. Er ergießt sich zusammen mit diesem zweiten, dass ich beobachtet werde, über meinen Rücken. Auf einmal fühle ich mich besser. Schlechter. Weniger wie ich, mehr wie ich. Schwer zu beschreiben.

Ich erinnere mich nicht viel aus den Jahren nachdem der Krieg los ging. Ich erinnere mich an die Schaufel, an die Grube, an das Überleben. Ich erinnere mich an ein gleißend helles Feuer und uns, als wir darüber gesprungen sind. Die Funken! Die weiße Glut der Panik, ein Augenblick lang fast das Gefühl, lebendig zu sein. Die tödliche Verachtung für die, die versagen. Habe ich auch versagt? Ein oder zwei Male bestimmt. Die Erinnerung ist wie aus einem Rausch, denn es war einer, voller Blut. Ich erinnere mich, dass wir jemanden zerrissen haben, der versagt hatte. An all das erinnere ich mich, als ich auf den Funken warte, der meine Zigarette anzünden soll. Vielleicht bin ich doch süchtig nach ihnen.

Es flackert auf, ich presse die Zähne aufeinander und beiße fast die Zigarette ab, mache einen ersten, sorgfältigen Zug, dann einen zweiten, gierigen, richte mich wieder auf.

Dann gehe ich weiter. Wenn meine nächtliche Begegnung scheu sein will wie eine Jungfrau, bitte. Soll ich ihm ein, zwei Gelegenheiten geben? Ja. Ich gehe langsam, lungere herum, warte ab, ob er sich traut.
Ich kann kein Feigling sein und bin auch keiner. Ich stehe mit dem Rücken zur Wand und meine eigenen Brüder können mir morgen schon mein Rückrat brechen. Doch ich werde nicht als Feigling sterben, ich gebe nicht auf und, bei Gott oder Kain oder allen anderen beschissenen Deals dieser beschissenen Welt: Keiner soll mir sagen können, ich hätte keine Eier.

Hehe.

[Der Steiger]

Du biegst von der Reinoldikirche nach Norden ab, einigen anderen Menschen hinterher, in die Brückstraße hinein. Scheint eine Art Ausgeh- und Restaurantstraße zu sein, mit diversen Clubs und Konzerten. Aber dein Fokus liegt woanders. Auf der Jagd.

Doch etwas stimmt nicht. Du kannst dich nicht konzentrieren. Der Lärm um dich herum, normalerweise leicht auszublenden, er dringt wie Messer in dein Bewusstsein. Satzfetzen, Töne, Lachen, alles klingt so laut. "...uralt, der Typ..." "...dancing with the devil..." "...hihiheheheHAHA..." "...muss man echt schnell sein..." "...das tut dir nicht gut..."

Die Straße scheint länger und länger zu werden, sich vor dir zu ziehen wie Kaugummi, als du sie entlanggehst (stolperst). Neigen sich die Häuser auf dich zu?

[Feodor Mykyta Petrov]

Проклятий, verdammt… . Ich schwanke. Nein, auf einmal sitze ich auf dem Bordstein. Die Zigarette ist weg.

Ich bleibe sitzen und sehe den Häusern zu, die tanzen. Nein, doch besser wieder aufstehen.

Es gelingt halb. Ich ziehe mich an einer Straßenlaterne in die Höhe und bleibe da lehnen.
Ich höre zu und was ich höre, klingt nicht gut.

Was ist los? Ist das ein Angriff? An dem Tabak hat es nicht gelegen. Wahrscheinlich. Ich kann literweise Vodka trinken und nichts passiert.

Ich sehe mich um und kann keinen Angreifer ausmachen. Aber das muss nichts heißen. Das heißt nur, dass ich ihn nicht sehe bevor er mir die Kehle aufschneidet oder mir eine Kugel in den Hinterkopf jagt.

“гівно!”, fluche und lalle ich zu meinem Laternenpfahl. Die wabernden Wortfetzen sind ziemlich klar, solange ich nicht daran festhalte, dass alles einen Sinn ergeben muss. Und das habe ich lange aufgegeben. Oder noch nie gemacht. Als ich klein war, hat die Verwaltung meinem Dorf einen halben Traktor zugeteilt. Und was kam? Ein halber Traktor.
Meine Gedanken verwirren sich und zerfließen ineinander wie Blut im Vodka.

Also? Wieder zurück, in die U-Bahn fallen und wegfahren lassen. Guter Plan - mal sehen, wie weit ich komme oder wohin ich gehe. Ich bin mir nicht ganz sicher, wo welche Richtung ist.

[Der Steiger]

Menschen gehen an dir vorbei, schauen dich an. Du nimmst sie nicht wirklich war, aber aus den Augenwinkeln hast du das Gefühl, dass sie lächeln, bevor du sie voll anblickst. Dieses hässliche, zähnereibende, ohrenschmerzende Lächeln. Aber wenn du den Kopf drehst, siehst du nur skeptische Gesichter. Besorgte Gesichter. Neugierige Gesichter.

Und dann siehst du ihn. Der Kerl in Schwarz. Steht direkt vor einem Cafe und wieder dieses Lächeln auf seinem Gesicht, dass dich Blut spucken lassen möchte vor Ekel. Keine drei Meter entfernt. Völlig ruhig.

[Feodor Mykyta Petrov]

Ich will mich an meiner Laterne festhalten, aber stelle fest, dass sie auch nicht mehr da ist. Wahrscheinlich zusammen mit der Zigarette durchgebrannt. Ich starre den Kerl an.

“що ти хочеш?!”, fahre ich ihn an. Was willst du!? Ich wanke auf ihn zu und spüre meine Knochen knirschen. Sie verschieben sich, könnte ich schwören. Oder der Rest von mir verschiebt sich. Oder die Stadt verschiebt sich, der Grund unter meinen Füßen. So oder so, ich wanke auf ihn zu. Das ist nicht der Weg zur U-Bahn. Ich gebe ihm eins von meinen Lächeln. Die Sorte, mit der ich aus Versehen Zigaretten abbeiße oder irgendwann Lebedevs Finger und Ohren.

“Das hier ist deine Ecke, ya?”, frage ich ihn.

[Der Steiger]

Er antwortet nicht, lächelt nur. Seine Hände sind hinter seinem Rücken verschränkt. Das Seltsame ist, dass je näher du kommst, je weiter weg er entfernt scheint. Irgendetwas an ihm ist seltsam vertraut. Vielleicht hast du von ihm geträumt. Damals, als du noch geatmet hast. Vielleicht bist du schweißgebadet aufgewacht, oder schreiend. Die Schatten seiner Kapuze verdecken sein Gesicht, selbst als du direkt vor ihm stehst.

[Feodor Mykyta Petrov]

Untermalung

Kindheitsträume: In Zuckerwatte erstickter Hunger. In den schönen, sauberen Straßen dieser Stadt gab es für uns Ratten nichts zu fressen. Wir sahen zu wie die reichen Leute alles hatten, Kaviar und Eiscreme, Champagner und Zuckerwatte.
Ich beiße hinein. Das weiche, klebrige Weiß und Zartrosa bricht auf und kleine Krebse quellen heraus. Ich kenne die Krebse vom Strand. Ich habe gesehen wie sie über die Leiche eines Hundes gekrochen sind und aus einem Tier ein Ding ohne Gesicht gemacht haben, einen Klumpen Fell und Knochen und stinkende Reste.
Ich beiße in die Zuckerwatte, sie quellen heraus und über mich hinweg, meine Haut, mein alles und ich beginne, aus hunderten kleiner Schnitte zu bluten.

Und da steht er und lächelt. Er hält Zuckerwatte in jeder Hand und ich könnte vor Hunger sterben. Ich wache schweißgebadet auf und er ist noch immer da, genau wie dieses Lächeln, das seitdem in die Innenseite meiner Augenlider gestanzt ist.
Von ihm habe ich es gelernt, mein Lächeln.

Ich lächele auch, aber nichts daran ist freundlich und alles ist wie das aufreißende, klebrig-süße Zartrosa und tausend nasse kleine Krebse die einem das Fleisch von den Knochen herunterziehen.
Erneut wache ich schweißgebadet auf und wanke auf ihn zu um ihn zu beißen wie die Zuckerwatte oder in hunderte kleine Streifen zu schneiden.
Eigentlich muss ich zurück zur U-Bahn und habe nur die Richtung verloren.

[Der Steiger]

Als du auf ihn zustolperst, verloren in seltsamen Erinnerungen, verändert auch er seine Pose, scheint erneut deine Bewegungen zu imitieren. Dein Mund versucht ihn zu beißen, während dein Messer ihm in die Seite fährt. Du schlägst hart auf, kalt und glatt seine Haut, zu hart um menschlich zu sein. Da ist ein ekelhaftes Geräusch, als deine Messerklinge an ihm abgleitet.

Du blinzelst.

Die Scheibe vor dir zeigt dein Spiegelbild, verwirrt, verloren - aber ist da noch der Hauch eines Lächelns auf deines Doppelgängers Antlitz? Dann erst fällt dein Blick auf die Gäste hinter dem Glas, die dich aus der Bar verwirrt und verängstigt anstarren, auf den langen hässlichen Kratzer, auf das Messer in deiner Hand. Deine Zunge fährt über deine Fänge, ausgefahren in animalischer Lust, im Wunsch auf Zuckerwatte und Blut zugleich. Um dich herum bleiben Leute stehen.

Wie viele von ihnen prägen sich gerade deine Züge ein?

(+1 Stain für Verletzung Grundsatz Jäger und Gejagte)