[April 23] Ein todsicheres Ding (Feodor / SL)

Eine Sammlung vergangener Gräuel. Kein Vergessen. Kein Vergeben.
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Der Steiger
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[April 23] Ein todsicheres Ding (Feodor / SL)

Beitrag von Der Steiger »

Du bist noch nicht vernichtet. Das ist der einzige Lichtblick in diesem Moment. Auch wenn du nicht ganz verstehst, warum du noch lebst - oder besser gesagt, existierst. Du leckst dir die aufgeplatzten Lippen, die dein unheiliges Blut bereits zu heilen sucht. Ein Stück Schneidezahn fällt auf den Boden. Du bist dir ziemlich sicher, den Rest verschluckt zu haben. Jede Bewegung schmerzt. Drei Rippenbrüche, mindestens. Aber nichts davon permanent. Nichts existenzgefährdend. Und das, wie du gerade feststellst, treibt dir den kalten blutigen Angstschweiß in den Nacken. Irgendwas stimmt nicht. Du solltest längst Asche sein. Was zum Teufel haben sie mit dir vor?

Großväterchen spielt gerne den freundlichen alten Mann, tätschelt Wangen und lobt seine "Enkelchen". Aber du hast die größte Sünde begangen die er kennt. Du hast die Familie, die dich vor einem knappen Jahr so freundlich aufgenommen hat, betrogen. Man hat dir alles gegeben: Einen Job, eine Wohnung, sogar eine Karre. Aber eben nur einen Scheißjob, bei dem sich nichts holen ließ. Eine Scheißwohnung in Duisburg-Marxloh. Und einen alten VW Golf, bei dem du jedes Mal beten musst, dass er anspringt. Man hat dir gezeigt wo du stehst und es hat dir nicht gefallen.

Also hast du was mitgehen lassen. Du kennst dich mit Buchführung aus, du kannst Summen tanzen und verschwinden lassen, du weißt, wie viele Verluste man abrechnen kann, bevor es auffällt. Und dass mal ein Mädchen oder zwei bei den vielen Lieferungen der letzten Zeit aus den Transporten flüchten können - wer sollte dir das nicht glauben?

Jetzt in diesem Moment wird dir klar, dass Großväterchen dir keinen Moment geglaubt hat. Und dass du wie ein Idiot auf seine kleinen Tests reingefallen bist. Und dass Großväterchen keinesfalls der leicht verwirrte alte Spinner ist, für den er sich gibt. Die beiden Wachen an der Tür - du hast sie hier noch nie gesehen, aber sie sind Ex-KGB, da würdest du drauf wetten. Keine Chance dich zu befreien, bevor sie dich durchsieben. Nicht mit Handschellen, Kabelbindern und den Fußankern. Ansonsten ist der Raum leer, wenn man von dem Tisch mit Säge, Schlagring, Hammer und weiteren blutigen Werkzeugen absieht. Und von beunruhigenden Details wie dem Neonlicht, dem Abfluss am Boden und dem Schlauch an der Wand.

Die Wachen tragen Sonnenbrille. Keine Regung auf den Gesichter. Großväterchen hat sich noch nicht sehen lassen. Scheiße. Was haben sie mit dir nur vor?
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Feodor Mykyta Petrov
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Re: [April 23] Ein todsicheres Ding (Feodor / SL)

Beitrag von Feodor Mykyta Petrov »

Untermalung

Leben ist eine Droge. Es ist die einzige Droge, die wirklich alles hat. Am Ende krepiert man trotzdem an ihr, doch bis dahin? Es gibt nichts besseres.

Habe ich mich selbst zu sehr daran berauscht? Wahrscheinlich. Ich hätte es besser wissen sollen. Ich bin alt und habe mich aufgeführt wie ein Idiot Mitte zwanzig - und das, genau hier und genau jetzt, ist die Quittung. Kabelbinder, die in die dünne Haut direkt über den Handgelenken schneiden.
Jeder Rausch hat an seinem Ende diesen Moment, dieses ekelhafte, kalte Erwachen. Und dann sind auch dessen Begleiter nicht fern. Die Reue, die Angst, der reality-check in all seiner Bitterkeit - drei Geier, die über dem Elend kreisen.
Ist es verwunderlich, dass ich mich berauscht habe? Nein. Ich bin durch die Hölle gekrochen. Doch Mitleid gibt es nicht in dieser Welt. Es gibt nur das hier, eine geflieste Kammer mit einem Sinkabfluss in der Ecke. Es gibt die Wasserflecken an der Decke, den Geruch von Blut und Bleiche.
Nicht mein erstes Mal, dass ich das Aroma genießen darf. Manchmal kommt noch diese Note von verbranntem Fleisch dazu oder diese Schärfe von Angst und Pisse, von hervorgewürgter Magensäure und von salzigen Tränen. Ich kenne das ganze Instrumentarium dieser Gerüche. Und das macht es nicht besser, selbst jetzt mitten darin zu stecken.

Ich versuche, durchzuatmen. Fühlt sich an wie geriebenes Glas und Rauch. Ich spucke Rotz und Blut zur Seite aus. Scheiße, vielleicht war ein Zahn mit dabei. Fühlt sich so an, im Mund. Einer der Anzüge an der Tür hat sich halb umgedreht zu mir. Sie haben mich gehört, wahrscheinlich vorher schon. Man kommt nicht lautlos wieder zu Bewusstsein. Nicht, wenn man ist wie ich. Wenn man ist wie ich, dann ist davor das Heulen, das Schreien, das Geifern. Der Hunger, eine Raserei, die einen von innen aushöhlt, so dass kein Funke an Gedanken übrig bleibt. Ich bin hinter der Raserei und spüre sie nur noch in den eingedrückten Rippen, in den wundgerissenen Handgelenken, in den Füßen.

Arme wie Blei. Früher war ich einmal stärker. Früher war ich einmal jünger. Früher war ich lebendig und da war das alles wichtiger. Scheiße.

Es ist also nicht meine erste Runde in diesem Ring. Anscheinend war es auch nicht die letzte, soweit ich es sagen kann. Warum? Entweder will er mich leiden sehen, mit seiner eigenen, perversen kleinen Freude daran. Bei Kain, ich würde. “Bei Kain”, heh. Bester Witz auf Kosten von ganzen Leichenfeldern voller Kadaver, den ich mir jetzt gerade vorstellen kann. Und immer noch besser als “bei Gott”. Kain war immerhin einmal ein Mensch.

So oder so, die Möglichkeit ist beschissen. Mir fallen auf Anhieb ein halbes Dutzend Wege an, hier in der Kammer anzufangen. Mit den Fingern, das macht etwas mit dem Verstand. Wenn man seinen eigenen Fingern zusieht, wie sie aufgerissen werden. Gespalten. Oder einfach abgeschnitten. Auch das macht etwas mit Opfern: Der Moment, an dem sie begreifen, dass es endgültig ist, was geschehen ist.
Naja, endgültig. Ich schätze, das habe ich auch hinter mir. Wenn das alte Arschloch es will und genug Blut hier hinein pumpt, dann kann ich hundert Jahre in dieser Kammer zubringen und immer noch aussehen wie am ersten Tag. Scheiße. Wenn ich weiter in diese Richtung denke, kann ich gleich zurück in die Hölle kriechen. Doch so weit bin ich nicht, noch lange nicht.

в порядку, was ist die andere Möglichkeit, abseits so erfreulicher Gedanken? Er hat noch etwas anderes vor mit mir. Was würde ich mit meinen Leuten machen? Selbstmordkommando. Die süße Hoffnung, dass sie sich irgendwie wieder aus ihrer Scheißegrube heraus schaufeln können so gerade eben sichtbar am Horizont. Gerade genug, dass sie wirklich mit dem Graben und Klettern anfangen. Nie genug, dass sie es wirklich schaffen können. Hehe, wenn das die bessere von zwei Möglichkeiten ist, fange ich besser gleich damit an, in der Scheiße zu graben. Das alte Arschloch hat keine Ahnung von der Hölle.

Ich weigere mich, aufzugeben. Darauf läuft es raus. Sie können mir die Knochen brechen, mir die Haut von den Knochen ziehen, mich umbringen und in eine Grube werfen. Sie können mich in den Krieg schicken, Schlacht um Schlacht. Sie können mir mein Haus, mein Dorf, meine Heimat anzünden und mich in die Hölle werfen. Aber sie können nicht machen, dass ich aufgebe. Das kann nur ich selbst.

“Hey”, würge ich heraus. Der verkabelte, sonnenbebrillte, geleckte Ex-KGB-Schrank an der Tür hört wahrscheinlich nur ein Röcheln. Er wird es trotzdem verstehen. Es wird auch für ihn nicht seine erste Runde sein.
“Bringen wir’s hinter uns.”
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Der Steiger
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Re: [April 23] Ein todsicheres Ding (Feodor / SL)

Beitrag von Der Steiger »

Es ist nur natürlich, dieser Versuch ein Mindestmaß an Kontrolle zurückzuerhalten. Das eigene Schicksal zu bestimmen, und sei es nur der Winkel, in dem die Axt fällt. Mitglieder von Minderheiten haben sich brutalen Kolonialherren angedient, Frauen ihren untreuen und schlagfreudigen Männern, um sich zumindest ein kleines, kleines bisschen Autonomie zu sichern. Aber du weißt genau, dass man dir nicht einmal das gönnen wird. Würdest du es wirklich anders machen?

Die Relativität der Zeit wird selten so klar wie in solchen Momenten. Jede Sekunde wie eine Minute, jede Minute eine Stunde. Dies ist dein Hirn auf Adrenalin. Genug Zeit, um Ausbruchsmöglichkeiten durchzuspielen, zu verwerfen, um Schreckensszenarien auszumalen und mit allerlei unschönen Details zu füttern, Zeit an die geliebten Angehörigen zu denken und die Furcht um deren Sicherheit kriechen zu spüren. Wenn man denn welche hat. Tick-Tock. Tick-Tock.

Großväterchen wählt seinen Auftritt sehr bewusst und du könntest applaudieren. Du hättest es nicht besser timen können. Der alte, schwere Körper stapft heran, ungeschlachte Muskelmasse unter einem ausgesprochen feinen Anzug. Dir entgeht die Gartenschere nicht, die er locker in der rechten Hand trägt. Er nickt seinen Wachen zu, ein Lächeln, während zwei weitere Typen hinter ihm durch den Türrahmen treten. Auf dem Weg vom Eingang bis zu dir verschwindet das Lächeln wie durch einen perversen Zaubertrick. So hast du Großväterchen noch nie gesehen - und, ehrlich gesagt hättest du darauf verzichten können.

"Feodor." Er schaut dich an. "Ein schmieriger kleiner Dieb aus einem schmierigen kleinen Scheißland." Die Stimme ist sehr ruhig, aber du hast Brujah-Temperament schon mehr als einmal leise kochen sehen. Die Schere klappt gegen das Bein, wieder und wieder. Alexei Lebedev, Deckname Großväterchen, blickt abwartend auf dich herunter.

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Feodor Mykyta Petrov
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Re: [April 23] Ein todsicheres Ding (Feodor / SL)

Beitrag von Feodor Mykyta Petrov »

Es ist wie ein Tanz. Einer ist der Stärkere und führt. Einer gibt den Takt und den Tritt an. Und einem wird auf die Füße getreten, er wird herumgedreht wie eine Hure im Roten Kleid und am Ende kann sie vielleicht von der Tanzfläche humpeln. Wenn sie dann nicht alle Zehen an die Gartenschere verloren hat.

“Großväterchen”, mühe ich mich hervor zu pressen. Er hat recht mit dem kleinen Scheißdieb, denn es war ein kleiner Scheißdiebstahl. Er hat nicht recht mit dem kleinen Scheißland, aber die Musik hat bereits zu spielen angefangen und der Tanz hat längst begonnen und ich hänge an meinen Zehen und den Fingern und allen anderen Dingen auch so wie sie an mir.

“Lässt sich das nicht vielleicht wieder gerade rücken? Einer wie ich, der kann dir viel gutes Geld in deine Taschen spülen.” Auch das gehört zum Tanz und zur Musik. Bei allem Getrampele muss die Hure schließlich auch lächeln. Scheiße.
Also lächele ich und wahrscheinlich habe ich Blut auf den Zähnen, wo nicht direkt eine Lücke klafft.

“Was muss ich tun, damit du mir vergeben kannst, Großväterchen?” Lächerlich, ihn überhaupt so nennen zu müssen. So alt sieht er nicht aus. Könnte so alt sein wie ich, wenn wir beide am Leben wären. Könnte so alt sein wie die Steine, weil wir es nicht sind. Die Gedanken lenken mich ab, denn der Teil mit dem Betteln fällt keinem leicht. Man wirft die Würde über Bord, an Orten wie diesen, wenn die Musik zu spielen begonnen hat.

“Es tut mir so leid”, schiebe ich ein, hoffentlich einigermaßen im Takt und richtigen Tonfall. Mir geht der Arsch auf Grundeis, weil er so gut ist, weil die Musik stimmt, weil ich diesen Tanz selbst so gut kenne.



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Der Steiger
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Re: [April 23] Ein todsicheres Ding (Feodor / SL)

Beitrag von Der Steiger »

Für einen Moment regt sich Hoffnung, als sich der Mundwinkel des alten Manns hebt. Aber dann wandern deine Augen zu den seinen und dir wird klar, dass dir heute keine Vergebung geschenkt wird. "Ich habe in hunderte Gesichter geblickt", sagt er, nicht ohne Anerkennung. "Wenige kriechen so schön wie du, Feodor." Er hebt die Heckenschere. "Wiedergutmachung beginnt mit kleinen Dingen. Als erstes werde ich mir deine Eier nehmen. Für meine Sammlung." Die Worte haben einen Moment Zeit, um einzusinken.

"Und dann kannst du mir zeigen wie ernst du es meinst. Ich werde dir einen neuen Job geben. Gute Bezahlung - das wolltest du doch? Und ein sicheres Bett. Und völlige Freiheit, wie du die Situation hinbiegst, he?" Da ist es wieder, das freundliche Lächeln. "Du wirst unsere Außenstelle in Dortmund übernehmen und leiten, Feodor."

Was auch immer das Großväterchen genau mit der Heckenschere plant, es könnte schwierig werden. Deine Eier sind gerade auf Erbsengröße geschrumpft.

---

Die Zwischenscheibe des Wagens ist hochgefahren, als ihr über die nachtschwarze A40 gleitet, die Skyline von Essen bereits ziemlich nah. Der Mann neben dir liest aus einem Dossier vor, aber dieses Bedürfnis, zwischen deine Beine zu fassen und die... Leere zu prüfen (Phantomglied nennt man das wohl) lenkt dich ab. "...und offenbar besonders riskant nahe des Stadtzentrums", dringen die Worte in dein Bewusstsein. "Unsere Leute vor Ort sind natürlich großteils nicht eingeweiht und der eine überlebende Diener ist..." Der Mann - Businessanzug, Aktentasche, wahrscheinlich Jurist - zögert nur kurz "...ein fähiges, aber weniger kreatives Mitglied unseres Freundeskreises. Immerhin konnte er uns alarmieren."

Er reicht dir einige Zettel. "Prägen Sie sich die Adressen gut ein. Das sind Ihre Anknüpfungspunkte. Gospodin Lebedev ist erst einmal egal, was dort genau geschehen ist. Ihn interessiert die Bilanz. Aber er hat angemerkt, dass es vielleicht in ihrem Interesse sein könnte, auf erneute Angriffe vorbereitet zu sein. Und wenn sie rausfinden können, wer Gospodin Lukaschenko hat verschwinden lassen, sorgen Sie dafür, dass er es bereut."

Der Kerl faltet die Hände auf dem Schoss und blickt dich an. "Wir haben noch etwas Zeit bis zur Stadtgrenze. Haben Sie Fragen?"
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Feodor Mykyta Petrov
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Re: [April 23] Ein todsicheres Ding (Feodor / SL)

Beitrag von Feodor Mykyta Petrov »

Schwer, sich zu konzentrieren. Oder sehr, sehr einfach. Alle Dinge werden einfach, wenn sie auf ihre blanken Notwendigkeiten heruntergeschnitten werden. Schlechte Wortwahl, aber trotzdem.

“Gospodin Lukaschenko. Was gibt es noch über ihn? Und alle anderen, die es erwischt hat.”

Woran ich nicht denken will, weil es einen mit Grauen füllen kann wie schwarzes Wasser ein Loch im Moor füllt: Meine Stimme klingt wieder so wie sie klingen sollte. Morgen Nacht werden die Rippen weniger schmerzen, übermorgen ist der Zahn vielleicht wieder heil. Ein paar Sachen heilen nie.
Irgendwer hat mir einmal gesagt, dass wir keine Narben sammeln, nachdem wir das erste Mal gestorben sind.
Das war entweder eine Lüge oder seine Dummheit.

Ich sehe mir die Zettel an, die mir der vielleicht-Jurist-vielleicht-Buchhalter hingehalten hat. Adressen, Namen, Nummern. Ich versuche, mir Erinnerungshilfen in den Verstand zu zementieren. Nichts bleibt aufgeschrieben. Noch weniger wird gespeichert. Gar nichts geht online, niemals in die Cloud. Ich kenne die Regeln. Wer sie nicht kennt, ist längst tot. Oder man bringt ihn schleunigst um bevor er einem das eigene Smartphone ins Gesicht hält.
Vielleicht ist das mit Lukaschenko passiert. Dortmund klingt nach genau dieser Art von Scheißegrube, aus der man sich nicht herausgraben kann, weil man dabei das eigene Loch nur tiefer gräbt.

“Wer ist der Boss in Dortmund? Prinz? Bischof? Regent? Baron?” Deutschland. Das heißt, es ist wahrscheinlich ein Prinz. Es ist ein verbranntes Land, das an der eigenen Asche und geschmolzenem Blattgold erstickt. “Und wer sind seine Leute?”
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Der Steiger
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Re: [April 23] Ein todsicheres Ding (Feodor / SL)

Beitrag von Der Steiger »

"Die genauen Umstände sind unklar. Unser letzter verbliebener Eingeweihter vor Ort hat berichtet, dass Ihr Vorgänger eines Nachts überstürzt aufgebrochen ist. Offenbar wurde er gewarnt. Was uns gewundert hat ist allerdings, dass er keinen Kontakt zu uns aufgenommen hat. Zuerst haben wir vermutet, dass er dumm genug war, von unserem Freundeskreis zu stehlen..." Er wirft dir einen pointierten Blick zu. "...aber im Lichte des Verschwindens der übrigen привиде́ний der Stadt vermuten wir mittlerweile einen Zusammenhang."

Der Mann zieht ein Foto aus der Aktenmappe hervor. Eine BMW 7er Limousine am Straßenrand, verdreckt, die Türen geöffnet. "Den Wagen hat die Polizei zwischen Eslohe und Sundern im Sauerland gefunden, auf einer sonst eher wenig benutzten Straße. Von Gospodin Lukaschenko und seinen Beschützern keine Spur." Er runzelt die Stirn. "Einer unserer besten убо́рщикы ist hingefahren um es sich anzusehen und nicht zurückgekehrt. Kein Mysterium diesmal - das Sauerland kein freundlicher Ort für, mh, Ihresgleichen und Meinesgleichen."

Auf deine letzte Frage hin wirkt der Anwalt kurz irritiert, aber seine Professionalität gewinnt und er deutet die Worte sinnvoll um. "Der letzte Prinz der Stadt war ein Mitglied der Könige namens Paul Ostermann. Ancilla. Wie alle... Höchstverantwortlichen der Region hat er nach 2008 ein striktes Verbot moderner Kommunikationsmittel erlassen. Deswegen hat es auch gedauert, bis uns die Nachrichten erreichten. Tote Briefkästen arbeiten nun einmal langsamer als Smartphones." Er hebt die Hände. "Nicht, dass diese Maßnahmen nicht sehr wichtig und richtig wären, trotz ihrer Nachteile."

Eine kurze Pause, dann leiser: "Auch Gospodin Ostermann ist verschwunden."
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Feodor Mykyta Petrov
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Re: [April 23] Ein todsicheres Ding (Feodor / SL)

Beitrag von Feodor Mykyta Petrov »

“Verstehe.”
Was ich verstehe ist das: Wenn irgendwo tief unten in einer Grube das Grubengas austritt, dann riecht und hört man nichts davon, bis die ersten krepieren. Es gibt diese Geschichte von den Kanarienvögeln, die also in die Stollen gehängt wurden. Und wenn sie in ihren Käfigen von der Stange kippen, dann sehen die Bergleute besser zu, dass sie wegkommen. Keine Ahnung, wieviel von der Geschichte stimmt, aber das Prinzip ist einfach genug. Ich bin also ein Kanarienvogel.

“Irgendwelche Überlebenden, von denen wir wissen? Orte, die viel gebraucht wurden? Sitten, die ich kennen sollte?”
Ich schaue mir das Foto von der gestrandeten Limousine an. Das Sauerland ist ein paar Autostunden weit weg, wenn ich mich nicht irre. Ich weiß nichts darüber außer dass es dort Touristengeschäft gibt. Ich erinnere mich an ein paar Preise für Immobilien und idyllische Hochglanzfotos von Hotels und Wanderwegen. Wäre möglich, dass jemand wie Lukaschenko dort irgendwo einen feinen, kleinen Unterschlupf hatte, in den er fliehen wollte. Vielleicht hat er den Wagen einfach stehen lassen, gewechselt, ist abgehauen. Vielleicht hat ihn wer eingeholt. Es ist außerhalb meiner Reichweite, denn Lebedev hat mich bei den Eiern. Haha.

“Wenn einer wie Gospodin Ostermann verschwindet, dann folgt eine Welle von Gewalt und Toten”, stelle ich fest. Ghule und Blutegel, die auf einmal keine Order und kein Blut mehr bekommen, werden verzweifelt oder dumm oder gierig. Oder alles davon.
“Gibt es solche Anzeichen?”
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Der Steiger
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Re: [April 23] Ein todsicheres Ding (Feodor / SL)

Beitrag von Der Steiger »

"Das ist Ihr Job, Herr Petrov." Kein Gospodin - es fällt direkt auf. "Unsere Operation war nicht mit den örtlichen Machthabern abgestimmt und hat daher lange den Kontakt vermieden. Nach dem was wir wissen, hat sich Gospodin Lukaschenko mit einer Gruppe von..." Er seufzt. "...'Anarchen' arrangiert. Soweit wir wissen, haben sie ihn in ihre Reihen aufgenommen und vor den... anderen beschützt, im Gegenzug für großzügige finanzielle Hilfe. Angesichts der, mh, Eingriffe durch bestimmte staatliche Kräfte war Gospodin Ostermann offenbar zu Zugeständnissen bereit."

Er schaut auf dem Fenster, als ihr in den Tunnel einbiegt, welcher die Essener City unterquert. Sein Gesicht wirkt statuesk im gelben Licht der alten Beleuchtung. Als er spricht, klingt seine Stimme leicht distanziert. "Manche von unseren Mitarbeitern haben keinen Wert, Herr Petrov, außer dem, den sie für uns erarbeiten. Würden sie aufhören, ihr Wert auf die Nullsumme sinken, wir würden sie ausschalten. Sie wissen das. Es hält sie motiviert."

Er schaut dich mit seinen kalten, blassblauen Augen an. "Sie hingegen - sie sind tief in den roten Zahlen. Wenn Sie nicht liefern, dann..."

Eine markante Pause, bevor er wieder zum Ordner greift. "Wir haben die Medienberichte aus Dortmund aufmerksam verfolgt, ebenso wie die Gerüchte unter den lokalen... Vereinigungen. Es scheint, als hätten alle von ihnen Männer verloren. Aber noch hat sich niemand vorgewagt. Wir hatten insofern Glück als dass Vukho - ihr Kontaktmann - zurückgelassen wurde. Nachdem er uns informiert hatte, konnten wir die Situation von außen einigermaßen stabilisieren. Aber Vukho ist nicht der richtige Mann, um die Organisation nach vorne zu bringen. Er hat einen guten Job gemacht - nun wird er Ihnen helfen."

Der Anwalt runzelt die Stirn. "Muss ich erwähnen, dass ein loyaler Speznas wie Vukho zehnmal mehr wert ist als Sie, wenn es hart auf hart kommt?"
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Feodor Mykyta Petrov
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Re: [April 23] Ein todsicheres Ding (Feodor / SL)

Beitrag von Feodor Mykyta Petrov »

Vukho - Ohr. Ich frage mich flüchtig, ob er das andere Ohr auch an das gute Großväterchen verloren hat. Ich setze mich ein wenig um. Schmerzen in den Rippen, Armen, Nacken, Kiefer. Die verdammte Hose passt nicht mehr. Ist auch nicht meine.

“Ich habe verstanden”, sage ich ihm, sobald ich mich ihm einigermaßen zugewendet habe, soweit das auf dem Autositz geht. “Ich mache nicht denselben Fehler zweimal.” Nicht ganz wahr, aber das, was er hören will. Die Frage ist, warum er überhaupt darauf herumreitet. Er kann wohl kaum glauben, dass Lebedev nicht deutlich genug war. Ich sehe ihn mir genauer an.

Vielleicht gefällt ihm einfach nicht, dass ich hier im Auto sitze und nicht in irgendeinem Loch verscharrt bin. Vielleicht will er sagen, dass er mehr wert ist als Vukho oder ich, noch einmal in die Kerbe schlagen.
“Ich kenne dieses Land nicht”, sage ich ihm. “Aber ich kenne uns und solche wie uns. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben. Ich mache, was ich zu machen habe.”

Ich hätte ihm noch mehr zu sagen. Davon, was es einem einbringt, bei einem nachzutreten, der bereits am Boden liegt. Davon, dass er es dann besser richtig machen sollte, so dass er nie wieder aufstehen kann. Davon, dass er klingt wie einer, der noch nie durchs Feuer gesprungen ist, um seine Seele zu retten, seinen Hunger zu stillen, Kugeln aus dem eigenen Fleisch zu schneiden - oder aus dem der anderen. Keine Ahnung vom Krieg.
Doch ich halte mein Maul, weil einer, der gerade aus dem Schlachthaus gekrochen ist, sein Maul zu halten hat.

“Wie ist Ihr Name, товариш?”
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