Tremonia Noctu

"Nein." sagt sie. "Ich vertrau dir nicht." Plötzlich dreht sie sich herum und schaut hinter sich, als wäre da etwas gewesen, bevor sie sich ebenso schnell wieder zu dir umwendet.

"Und was gehts dich an? Selbst wenn du nicht...nicht der Schuldige bist...tauchst hier plötzlich auf und krallst dir Sachen von anderen..."

Ich nicke ihre Worte einfach ab. Kein Grund, daran herumzudeuteln. “Да. Вот как это работает.” So läuft es eben.

“Es ist nicht dein… .” Für einen Moment suche ich nach dem richtigen Wort auf deutsch. Sie haben keine guten dafür. “...Revier.” Land. Wurzel. Blut. Stärke. Bruderschaft, Bratva.

“Du bist zu feige, dich vorzustellen. Komm wieder, wenn du deine Angst im Griff hast”, sage ich ihr dann und meine es auch so. “Davor lohnt sich das Reden nicht. Нет основы - keine Grundlage.”

"Feige..." sie lacht flach, die Luft dabei zischend ausstoßend. "Du bist nicht feige genug. Angst ist es was Tiere am Leben hält...und uns auch. Mach ruhig einen auf dicken Macker...vielleicht findet dich, was auch immer uns jagt, zuerst."

"Und pass auf wohin du deine Griffel ausstreckst. Das mag nicht mein Revier sein aber ich habe eines."

“Bah”, mache ich verächtlich, als sie so anfängt. Doch ich lächele auch schmal, denn offenbar war ihr wichtiger, mich zu beleidigen und sich aufzuplustern als Angst zu haben.
“Sag mir, wo ich mich fernhalten soll. Wo dein Revier ist. Und irgendeinen Namen dazu.” Offenbar braucht es hauptsächlich Geduld, um mit ihr zu sprechen. Vielleicht kommt sie von alleine darauf, dass sie kein Revier beanspruchen kann ohne es tatsächlich zu beanspruchen.

“Wir müssen keine Feinde sein”, sage ich ihr dann. “Ich war es nicht, der Hammerkopf beseitigt hat. Ich will wissen, wer es war. Wenn du es nicht warst und dasselbe suchst, dann können wir zusammen kommen.” In freundlicher Gemächlichkeit stelle ich das fest und schmiere eine dicke Patina aus russischem Akzent darüber. Und ich ändere den freundlichen Tonfall auch nicht als ich sage: “Wenn du es warst, dann bist du tot.”

Ich glaube nicht wirklich daran. Was auch immer das in der Innenstadt war, war kein Mädchen, das zum ersten Mal wirklich um ihr Überleben kämpfen musste. Die zum ersten Mal feststellen musste wie es ist, wenn links und rechts die Freunde und Bekannten und sogar die alten Feinde fallen.
Vielleicht hat sie überlebt, weil sie mit dem Feind zusammen gearbeitet hat. Sich verkauft hat. Das sagt mir meine Vorsicht. Aber ich finde es nie heraus, wenn es nirgendwo einen Anfang gibt. Also mache ich einen Wisch mit meiner freien Hand.

“Doch das glaube ich nicht", beschwichtige ich. "Ich habe was gefunden und das warst nicht du.”

"Hm..." Sie scheint unsicher nun wie sie sich entscheiden soll.
Bei deinen letzten Worten sieht sie dich lang an. Ihre Augen kannst du unter dem Schatten der Kapuze in der Nacht kaum sehen.
"was gefunden...hm..." sie scheint nun zu zögern. Vielleicht nachzudenken.

"Fein. Nenn mich Coelin." Sie spricht es Ko-e-lin aus. "Was hast du gefunden?"

Ich nicke ihr zu. Der Impuls ist da, sie wie ein kleines Mädchen zu behandeln, aber unsereins kann einen täuschen. Aus demselben Loch wie ich ist einer gekrochen, der aussah wie ein Junge von Zwölf. Er ging als einer der ersten drauf, aber nicht bevor er… . Ich blinzele den Gedanken weg. Das war eine andere Welt, der Krieg.

“Innenstadt”, sage ich ihr. “Der innerste Teil, das Herz, im Ring.” Ich weiß noch nicht, wie Dortmunder diese Dinge nennen. Aber sie wird damit etwas anfangen können. Vielleicht sagt sie es mir gleich. “Es geht in deine Gedanken, lässt sie irre werden.”
Bonnys Körper nahe an meinem Bein fühlt sich warm an. Sie ist angespannt, ich spüre es. Doch sie ist ruhiger geworden, weil wir reden und nicht kämpfen.

“Вампиры, die irre werden, mitten in der Stadt. Damit kommen tausend andere… .” Ich suche das Wort und finde es nicht sofort. “...Tode.” Das ist improvisiert und ich ärgere mich. Wie lange bin ich schon in Deutschland?

“Das erwischt solche wie Lukaschenko genauso wie solche wie Ostermann. Alle sterben auf andere Weisen. Weil das, was sie am Ende umbringt, verschieden ist.” Wieder nicke ich ihr zu.

“Doch du kennst Dortmund, Да? Sag mir, wie es los ging. Was passiert ist. Dann weiß ich, wo ich falsch denke und wo richtig.”

Sie nickt nur, nennt keinen Namen, versteht aber wohl was er meint. Der Ring war auch besonders bezeichnend für den Kern der Stadt. So oder so.
"Im Herzen der Stadt..." murmelt sie.

"Ah, aber sie sind nicht einfach gestorben. Wenn sie gestorben wären, gäbe es Spuren...Leichen, Asche..." ihre Stimme klingt betrübt. "Ihre Menschen wären noch da. Manche sind es vielleicht auch, andere nicht...sie sind einfach verschwunden. Alle mit allem..."

Sie macht eine Pause, dann fügt sie noch an:
"Ich weiss nicht wer alles weg ist, aber meine...Leute, ja und im Elysium war schon lange niemand mehr."

Scheiße. Was sie erzählt, klingt schlecht. Wenn jemand so gründlich arbeitet, steckt dahinter Planung. Eine Gruppe, ein Netzwerk, eine Methode. Offenbar auch eine Gute. Ich zähle die alten Schauergeschichten auf, die zwischen solchen wie mir kursieren, wenn wir irgendwo festsitzen, zusammengepfercht in irgendeinem LKW, Bus, Schützengraben, Lagerhaus, Container:
“Klingt wie… Leute von innen. Ghule oder Dünnblüter, die genug wissen, um uns zu jagen und unser Blut zu wollen. Um den Tag oder uns gegenseitig zu ihren Werkzeugen zu machen. Bluttanks zum Abzapfen hält das Ghulnetzwerk am Laufen.” Es ist reine Spekulation und ich lasse es auch so klingen. Aber wenn wir zu zweit nachdenken, kommt vielleicht etwas heraus. Oder ihr fällt noch etwas ein.
“Menschen, die zuviel wissen und sich organisieren. Die einen von uns gebrauchen können, um andere auffliegen zu lassen. Wenn es in der Innenstadt ist… hängt da vielleicht einer von uns mit Kräften, die uns irre machen. Und dann müssen sie nur noch säuberlich aufräumen.”

Alte, die sich in ihren Gräbern umdrehen, das wäre etwas anderes. Ich weiß nicht viel davon, kenne nur die halbwahnsinnigen, ganzfanatischen Predigten. Aber sie klingen nicht danach als wäre daran viel Methode zu erwarten. Ehrlich gesagt klingen sie nach Märchen. Das behalte ich für mich.
Letztlich muss ich mit den Schultern zucken. “Du hast recht. Wer bleiben will, muss aufpassen. Und mehr rausfinden.”

Und dann komme ich bei der Sache an, von der ich am Wenigsten eine Ahnung habe: “Elysium. Ich kenne das Wort nicht. Ich spreche noch nicht lange deutsch.” Das ist zwar nicht gelogen, aber ich kann eigentlich das meiste ganz gut verstehen. ‘Elysium’ habe ich mal gehört. Ein Ding von der Cam. Scheiße. Vielleicht deren Kirche?

Sie reibt sich die Arme, als wäre ihr kalt.

"Ghulnetzwerke...aber wäre das niemanden aufgefallen? Hätte niemand was gesagt? Gekämpft? Es ist...als wäre sie einfach von der Welt verschwunden, als hätten sie nie existiert."
"Das mit dem Wahnsinn...vielleicht. Ich fühle mich schon lange nicht mehr gut, nicht mehr wie früher...aber schon länger als...als dass sie weg sind." Sie sieht sich wieder um.

"Warum weisst du nicht was Hammerkopf passiert ist? Seine Leute sind noch da. Sie sind nicht verschwunden, nicht alle. Wissen sie nichts?" Sie sieht dich vermutlich direkt an, aber ihre Augen siehst du kaum.

"Das Elysium ist ein Treffpunkt für die Cammies. War nur da um zu sehen ob jemand was weiss. Aber niemand taucht da mehr auf."

“Ah”, sage ich, eher versehentlich und ärgere mich dann über den Mangel an Kontrolle. Darum lächele ich schief und sage das wahrscheinlich offensichtliche: “Ich bin kein Cammie. Wo ist das …Elysium?”
Wahrscheinlich wird besser sein, dort nicht hin zu gehen, denke ich mir.

Auf ihre Fragen wende ich ein: “Du bist auch noch da und weißt nicht, was mit deinen Leuten passiert ist. Hammerkopfs Leute sind jetzt meine Leute. Ihnen geht es wie dir.”
Das kann sie mir glauben oder nicht. Ich weiß nicht, ob ich ihr trauen kann, aber ich kann mich auch nicht in einem Loch verkriechen und mich eingraben. Lebedev will Antworten und Geld.
“Ich weiß nicht, was wahr ist. Ich habe ein, zwei leergefegte Städte gesehen.” Leergefegt von der Cam. Leergefegt von meiner Seite, die nicht wirklich meine Seite ist. Vielleicht bin ich ein Pander. Würde erklären, warum ich hinterherhinke, wo andere rennen. Heh. Naja, ich bin gewohnt, schlechte Karten zu kriegen und das Beste draus zu machen.

Wahrscheinlich sehe ich mittlerweile nachdenklich aus. Jedenfalls lade ich sie zum Spekulieren ein: “Alte lassen sich nicht leicht kriegen. Leise und ohne Spur - noch schwerer. Wie alt war Ostermann?”